James Gray – Der filmische Raum zwischen Nähe und Distanz (2024)

Das „andere“ Kino Amerikas.

Im Lärm des Lebens haben die Stillen einen schweren Stand. Unsere Krachmacher-Kultur generiert im wachsenden Aufmerksamkeitswetteifer immer mehr Schrilles, Ohrenbetäubendes und weiß mit dem weniger Schillernden oft nichts anzufangen. Bilder verschlucken Bilder, die nicht bunt genug sind, um sich neben den farbigsten zu behaupten. Die Stillen unter uns führen ein Schattendasein. Wer etwa, wie der amerikanische Regisseur James Gray, dem bewährten Konsens-Kino eines Martin Scorsese abschwört, steht meist als Sonderling hinter seinen populären Kollegen zurück. Der findet freilich seine Nische im Unterholz eines Weltkinos, aus dem noch vereinzelt Hünen ragen, doch nicht unbedingt die ihm gebührende Breitenwirkung. Ein Gigant wie Scorsese wirft einen langen Schatten.

Der von Silke Roesler-Keilholz und Sascha Keilholz herausgegebene Sammelband James Gray – Der filmische Raum zwischen Nähe und Distanz wirft nun ein Schlaglicht auf einen hierzulande eher unbekannten Filmemacher, dessen letzte Produktion Two Lovers (2008) bezeichnenderweise keinen regulären deutschen Kinostart fand. In vier eigenständigen Essays entwerfen die Autoren eine werkübergreifende Topologie des Stadtraums, die Grays Figuren allesamt im Spannungsfeld von Nähe und Distanz ansiedelt. Reinhold Zwicks theologischer Betrachtung zufolge verweist etwa Grays Debütfilm Little Odessa (1994) gezielt auf alt- und neutestamentliche Kontexte und deutet die engen dunklen Interieurs als räumliche Metaphern für beengte Lebensverhältnisse. Hierauf entwickelt der Filmwissenschaftler David Gaertner am Beispiel von The Yards – Im Hinterhof der Macht (The Yards, 2000) das für Grays Kino charakteristische „Bild der Distanz“, welches Silke Roesler-Keilholz dann auf die räumlichen, mentalen und medialen Verhältnisse in Two Lovers überträgt. Schließlich unternimmt Herbert Schwaab den Versuch, James Gray als „Künstler der Abweichung“ im gegenwärtigen Independent-Kino zu lokalisieren. Ein ausführliches Interview mit dem Regisseur rundet den Band ab.

Als Mann der leisen Töne, Grenzgänger zwischen dem nordamerikanischen Independent-Kino und den Einsamkeitsdarstellungen der New Hollywood-Ära hat sich Gray in der zeitgenössischen Filmlandschaft etabliert. Gerade einmal vier Langfilme, die sich zuweilen einer eindeutigen Genrezuschreibung entziehen, umfasst sein bisheriges Œuvre, doch preisen ihn einschlägige Kritiker-Kreise bereits als Auteur, der mit unverwechselbarer Handschrift immer wiederkehrende Themenkreise und Motive in seinen Werken entfaltet.

Ob die gravitätischen Bewegungen der Akteure in dem brillanten Polizeithriller Helden der Nacht – We own the night (We own the night, 2006), die Figuration eines städtischen Umfelds als „affektiver Raum“ in The Yards oder der an griechische Tragödien erinnernde sengende Zwiespalt des Helden zwischen Liebe und Pflicht in Two Lovers – Grays Kino ist ein Kino der Innerlichkeit, des Insistierens, der Entschleunigung. In seinem offenen Rekurs auf die klassische Hollywood-Ära wirkt es schon beinahe unzeitgemäß, denn es kreiert einen unzeitgemäßen Betrachter sui generis. Grays Publikum hat mit dem modernen, an Selbstironie und Genretransgressionen gewöhnten Zuschauer nicht viel gemein. Nichts könnte Grays Werken ferner liegen als die ironisch distanzierte Grundhaltung der Coen-Filme, die sportive Zitatenklauberei oder das allzu schnell ermüdende Spiel mit Genreversatzstücken eines Tarantino. Grays Kino ergeht sich in Ernsthaftigkeit.

Kennzeichnend für alle seine Filme ist die sorgfältige atmosphärische Grundierung, die Schilderung des Großstadtmolochs. Aufgerieben zwischen familiären Zwängen und dem unerfüllbaren Wunsch nach einem Ausbruch aus der bestehenden Ordnung finden Grays Charaktere in der verrohten Metropole so etwas wie eine emotionale Heimat. Vor allem die gelbstichige Stadtlandschaft New Yorks brennt sich immer wieder als aufwühlende Gefühls-Kartografie in das Bewusstsein der Protagonisten. „So ginge es nicht“, wie David Gaertner in seinem Aufsatz zu The Yards bemerkt, „um das Abbilden und Wiedererkennen öffentlicher Plätze und Orte, sondern um einen Stadtraum, der in eins fällt mit der emotionalen Signatur des Films.“ Die Stadt als Seelenspiegel.

Grays Werke sind von bemerkenswerter Körperlichkeit. Das Taktile ist ein Hauptbestandteil seiner filmischen Syntax, die immerzu vom Herannahen und Verschwinden des Objekts erzählt, etwa von Michelles (Gwyneth Paltrow) sehnsuchtsvoll entblößter Brust, die dem unglücklich verliebten Leonard (Joaquin Phoenix) versagt bleiben wird (in Two Lovers), oder von der gefährlichen Fahrt des Nachtclubbesitzers Bobby (Joaquin Phoenix in We own the night), dem die russischen Gangster einen Jutesack über den Kopf ziehen, welchen der Regisseur auch über die Kamera stülpt: ein beunruhigender POV-Shot, die pure Stofflichkeit, hinter der Bobbys folkloristisches Stadtbild zusehends entschwindet, ein dichtes undurchdringliches Gewebe, greifbar und zugleich Furcht einflößend. Was Gray hier versucht, ist die filmische Immersion, die Einbindung des Zuschauers ins Zentrum knisternder, verstörender Situationen mit denkbar einfachsten filmischen Mitteln.

Gleichwohl mag ein so wohldurchdachtes Spiel mit Nähe und Distanz, den topologischen Konstanten dieses filmischen Universums, heutzutage eher irritierend wirken. Weil es Dinge vermehrt in der Schwebe belässt, anstatt sie hochdramatisch aufzulösen. Weil es ein Kino der Einsamkeit und Andeutung, der behutsamen, mehr tastenden Bewegungen provoziert, das nicht ganz so glatt hinabrutscht wie etwa ein später Scorsese. Weil ein Kino der „gedeckten Töne“, das weitgehend auf aggressive Farben verzichtet, nicht in demselben Maße Publiku*mserwartungen erfüllt wie das auf Wiedererkennung und Stereotypisierung getrimmte Genrekino unserer Tage. Ein folgenschwerer Schluss, der Grays solitäre Position auf dem amerikanischen Kontinent noch einmal verdeutlicht. Grays Filme tun sich schwer. Grund genug, sie zu sehen, zu lesen, ihren ästhetischen und emotionalen Qualitäten sehend und lesend nachzuspüren.

James Gray – Der filmische Raum zwischen Nähe und Distanz ist eine gelungene Einführung in das Werk eines kompromisslosen Regietalents der Gegenwart. Nebenbei liefert es eine Reihe interessanter theoretischer Ansatzpunkte zur Rezeptionsästhetik, zu Stilfragen sowie zu räumlichen Dispositionen im zeitgenössischen Film. Dass sich die Autoren Grays Arbeit vorzugsweise topologisch nähern, ist zweifellos ein gewinnbringender Ansatz, der es erlaubt, die darin wiederkehrenden Motive und Strukturen losgelöst von einer bloß psychologisierenden oder narratologischen Betrachtungsweise zu erschließen. Ihre strukturalistische Perspektive fasst Grays vielgestaltiges Werk vielmehr unter das Begriffspaar Nähe und Distanz. Damit ist ein anschauliches Strukturmerkmal gegeben, das den Kern von Grays Filmen präzise erfasst.

Der Sammelband James Gray – Der filmische Raum zwischen Nähe und Distanz ist im Schüren Verlag erschienen.

Sascha Keilholz war von 2004 bis 2011 stellvertretender Chefredakteur von critic.de, Silke Roesler-Keilholz war als Autorin mehrfach für die Seite tätig.

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Author: Stevie Stamm

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